Überraschung! Das Abi wird immer leichter!

Das ist Quatsch? Getrieben von der „Früher-war-alles-besser-Mentalität?“ Nee, das ist Fakt. Wird grade von Profis untersucht.

Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist nach wie vor recht schwer, einen wirklich guten Schnitt mit 1 vor dem Komma zu erreichen. Natürlich gibt es viele Schüler, die wirklich was auf dem Kasten haben, sich abrackern, und dafür berechtigterweise gute Noten bekommen.

Doch durch die vorgegebenen Aufgabenstellungen, Erwartungshorizonte und Bewertungsauflagen der Kultusministerien haben sich die Anforderungen für die Noten im Bereich von 3 bis 5 so aufgeweicht, dass man *Verzeihung* fast schon komplett blöd sein muss wochenlang abgeschaltet haben muss, um eine 4 nicht zu schaffen. Gefühlt reicht es schon aus, IRGENDETWAS zu Papier zu bringen, um sich dort hin zu retten. Da fühlen sich viele Lehrer für dumm verkauft, die plötzlich Leistungen mit 4 bewerten müssen, die vom Bauchgefühl doch eher einer 5 entsprechen. Diese aufoktoyierte Noten-Verzerrung verändert by the way die gesellschaftliche Wahrnehmung von Schulleistungen.

 

Das Problem ist: Es gibt daran kein Problem. Weder für den Staat, noch für die Wirtschaft.

Denn das ist ja gewollt. Soll ja schließlich jeder irgendwann mal ein kleines Abi sein Eigen nennen können. Hat ja auch bei richtiger Förderung jeder das Zeug zu, so suggeriert die Politik.

Juhu, wenn bei mittlerweile über 50% eines Jahrgangs mit Gymnasialempfehlung das Abi leichter wird, hat das viele Vorteile: Dann wird nämlich bald auch die von der OECD zum Richtwert erhobene Quote für Studierfähigkeit erfüllt. Denn da schneidet Deutschland ja im Vergleich gaaaaanz schlecht ab!  Dass z. B. in England auch die Ausbildung zur Krankenschwester oder Hebamme unter einer Art von Fachhochschulstudium läuft, und deswegen natürlich auch die Studierendenzahlen rein statistisch höher sind als in Deutschland, wird dabei nicht berücksichtigt. (An dieser Stelle sei eine Lanze für das deutsche duale Ausbildungssystem gebrochen, das uns die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in Europa beschert.)

Dazu habe ich mich hier bereits ausgelassen: Wie die Bildungspolitik sich von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisieren lässt

Wir sind aber auch preußisch-elitär und hängen einem weltfremden, ewig-gestrigen Bildungsideal an. Völlig realitätsfern. Braucht ja kein Mensch, was in deutschen Schulen gelehrt wird. Goethe und so’n Kram. Also Bitte. Wem hat Goethe schon mal bei Alltagsfragen geholfen?

Aus dem neusten Curriculum für Geschichte in NRW für Klasse 10 ist nun auch die Attische Demokratie gestrichen worden. Wer muss den auch wissen, wo unsere Demokratie herkommt und warum? Oder wo in der Geschichte ihre Schwachpunkte lagen? Stattdessen wurde das Thema jetzt ersetzt durch „Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive“. Es geht um Migration und Vorurteile im historischen Längsschnitt.

Ein wichtiges Thema, da stimme ich durchaus zu, wenn das Thema Migration nicht schon Inhalt des Politik-, Deutsch-, Reli-, Philosophie-, Englisch-, Französisch-, Geschichts- und Erdkundeunterrichts in den vorausgehenden Klassenstufen gewesen wäre. Was für die Schülergenerationen der 70er bis 90er Jahre das Thema Nationalsozialismus war, ist heute das Thema Migration.


Die neuen Lehrpläne triefen so sehr von politischen Dogmen, dass man sich als Lehrer mitunter idiotisch vorkommt.

Es geht also um die praktische Verwertbarkeit von Unterrichtsinhalten. Also so richtig verwertbar. Nicht wie die staubige „Attische Demokratie“. Mit diesem unpraktischen Wissen hat noch niemand gut im PISA-Test abgeschnitten.

Aber welches Interesse hat denn die OECD an diesen Studien? Ist das nicht einfach ein wirtschaftlicher Interessenverband, der mit PISA durch „ganz neutrale konzipierte“ internationale Leistungsvergleiche auf Bildungs- und Chancenunterschiede aufmerksam machen will? So zum reinen Selbstzweck? Weil die Welt so ungerecht ist und man das beheben will?

Die ganz aktuelle PISA-Kritik in einem offenen Brief von Bildungskoriphäen äußert da andere Bedenken. Im Zuge dieses Briefes werden plötzlich zahlreiche Expertenstimmen laut, die „Bildungspolitischen Kolonialismus“  anmahnen.

Man beschwert sich über die Instrumentalisierung der PISA Tests um Bildungsnormen neu zu schaffen – weg von einer breiten Bildung, hin zu rein praktikabler Verwertbarkeit. PISA spricht also die Sprache des Zasters: Wer kann schon am besten, was sich zu Geld machen lässt?

Aber PISA ist ja ein sehr subtiles Mittel, um Druck auf die Schullandschaft bzw. die Bildungspolitik auszuüben, die wiederum panisch vor den neuen Bildungszielen kuscht.

Vorne herum wird sich möglichst laut und empört beschwert und mit dem moralischen Zeigefinger gewedelt: „Was kommen da nur für Leute aus den Schulen? Das geht ja gar nicht! Die können ja weder richtig schreiben, noch nen banalen Dreisatz lösen oder am Fahrscheinautomaten das richtige Ticket ziehen! Was ist das nur für ein pervertiertes, ewig-gestriges Schulsystem? Warum hört denn niemand auf uns? Lehrt doch endlich mal Dinge, die was für das richtig echte Leben bringen!“


Doch hinter dem Rücken können sich große Arbeitgeber der freien Wirtschaft die Hände reiben: Viele junge Leute mit niedrigen akademischen Abschlüssen. Da lässt sich viel Geld sparen.

Nach nunmehr nur noch 12 Schuljahren wird eine hohe Quote von Abiturienten von den Gymnasien ausgespuckt. Diese sind zwischen 17 und 19 Jahre alt und drängen an die Hochschulen. (Denn was soll man sonst schon mit Abi machen, wenn man ein Studium sein Leben lang als einzige Eintrittskarte zu einem tollen Beruf mit Kohle satt vorgebetet bekommen hat?)

Die FAZ schreibt darüber polemisierend Debatte über Akademisierung: Müssen bald alle Menschen studieren?“

Da ist es nun, das Heer von jungen Abiturienten, und schreibt sich dank der Abschaffung von Diplom und Magister in einen Bachelor-Studiengang ein. Dauert in der Regel 3 Jahre. Strebsam durchgezogen, spuckt die Uni also 20-22-jährige Bachelor wieder aus. Von denen gehen noch einige in einen zweijährigen Masterstudiengang. Master mit 23, das ist doch mal was!

Freilich, die Universitäten winden sich noch etwas. Sie haben ihr Schicksal leider noch nicht so anerkannt wie die Schulen. Hier ziert man sich noch etwas mehr, den Bildungs- und Abschluss-Ausverkauf einzuläuten. Man setzt in behäbiger Nostalgie inhaltlich irgendwie noch etwas zu hoch an. Und mit Methodik jenseits von frontalen abgehaltenen Vorlesungen und Seminaren, in denen die Dozenten ihre mit Lehrer zu verbringende Zeit mit Studentenreferaten füllen, hat man sich hier noch nicht auseinandergesetzt.

Es kommen doch schließlich alles Abiturienten mit dem Attest der allgemeinen Hochschulreife. Da darf man sich doch wohl noch auf grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und grundsätzliche Selbstlernstrategien verlassen?

Sehr treffsicher seziert ein Universitätsdozent das Problem in der FAZ: „Sprachnotstand an der Uni: Studenten können keine Rechtschreibung mehr

Leider haben die Universitäten vom Elfenbeinturm aus noch nicht die schulische Realität geschaut. Die Curricula und zentralen Abschlussprüfungen der Gymnasien geben einen anderen politischen Trend wieder. Kompetenzlehrpläne und Zentralabitur haben bereits andere Werte zum Desiderat erhoben. Und die haben zwar eine allgemeine Studierfähigkeit zum Ziel, jedoch fehlt zwischen Schulpolitik und Universitäten offenbar ein Konsens darüber, was das die Uni-Reife eigentlich ausmacht.

Da gilt es zu überbrücken, was zu überbrücken ist:

 „Die Hochschulen müssen – dank zweistelliger Millionbeträge des Bundesministeriums für Bildung und Wissen – immer mehr Brückenkurse für nicht studierfähige Abiturienten einrichten, denen gerade in Mathematik nicht nur der Stoff in der Sekundarstufe II, manchmal noch nicht mal der aus der Mittelstufe ausreichend bekannt ist.“ Quelle

Über kurz oder lang müssen deutsche Universitäten, so wie die deutschen Schulen, wohl eine „Amerikanisierung“ der Bildung akzeptieren. Der Trend des Gymnasiums und der Gesamtschule geht in Richtung amerikanische High School. Ein Abschluss für die Mehrheit. Daran schließt sich in den USA für die noch minderjährigen Teens und die Twens das College/die Hochschule an. Im Grunde entspricht dies zunächst einer Verlängerung unserer Oberstufe in einer anderen Institution, auf die dann zunächst ein basales Studium gesetzt wird. Freilich ist die Skala der Abschlüsse nach oben offen. Doch das College bzw. die Uni verlassen kann man mit dem Minimalabschluss recht früh. Und erstaunlich unqualifiziert.

Deutsche Universitäten haben sich bereits den Bachelor-Master-Studiengang mit dem Credit-System angezogen. Sie werden sich im Zuge dessen auch ein neues Selbstverständnis anziehen müssen. Dies wird sich schon bald auch in einem niedrigeren Einstiegsniveau niederschlagen müssen. 

Aber zurück zur Wirtschaft.

Ein zwanzigjährigen Bachelor und ein dreiundzwanzigjährige Master bedeuten billige akademische Arbeitskräfte auf befristeten Stellen. Niedringste Einstiegsgehälter, minimales Arbeitgeberrisiko durch Befristung, viele junge Leute, die sich in Praktikanten- und HiWi-Jobs unterhalb von Mindestlöhnen und ohne sichere Perspektive hochdienen müssen. Und wollen. Sind ja noch grün hinter den Ohren. Und ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig. 

(Kam ja nicht in Frage, nach dem Abi eine Ausbildung in einem mittelständischen Unternehmen zu machen. Oder vielleicht gar kein Abi zu machen, sich die Zeit zu sparen und sich durch Ausbildung und fachliche Weiterbildungen clever zu spezifizieren. Diese Option war keine Option. Nicht für die Eltern, die wollten, dass ihr Kind es zu was bringt und es durch das Gymnasium knechteten. Entgegen der milde geäußerten Bedenken einiger Lehrer, dass sie in dem Kind eher eine praktische Begabung sähen. Dass man das Kind vor vielen Tränen, Misserfolgen und einem zerstörten Selbstbewusstsein bewahren könne, wenn man eine andere Schulform wähle. Ein Abi könne ja später immer noch kommen, wenn denn der Wunsch bestehe. Und in nicht-akademischen Berufen lasse sich auch gutes Geld verdienen.)

Auch für den Staat bedeutet es enorme Konstenvorteile, die Schüler möglichst kurz im System zu halten: Sitzenbleiben abschaffen, Abi nach 12 Jahren, da liegt man dem System deutlich kürzer auf der Tasche.

Und die jungen Bachelor und Master, die sich schon so früh in stupiden und schlecht vergüteten HiWi-jobs kasteien, zahlen immerhin deutlich früher in die staatliche Sozialversicherung ein.

Ist ja auch echt nötig angesichts der desolaten demographischen Lage in Deutschland. Die Gesellschaft überaltert, da sollten junge Generationen früh zur Kasse gebeten werden.

Dumm gelaufen allerdings für mittelständische Unternehmen. Die haben leider wirklich Grund, über den Mangel an qualifizierten Fachkräften zu Klagen! Sie befinden sich genau in der Mitte der Schere, die sich in unserem Schulsystem öffnet. Scheint sich irgendwie nicht mehr viel abzuspielen zwischen Abiturienten und den sogenannten „Bildungsverlierern“ oder „Drop-outs“.

Mehr als 300.000 Stellen in mittelständischen Unternehmen können laut einer aktuellen Umfrage nicht besetzt werden. (…) Hochgerechnet summierten sich die Umsatzausfälle auf 31 Milliarden Euro jährlich. Quelle

Allerdings, so erläutert das Magazin Cicero scharf, bemühe der Mittelstand sich auch nicht mehr genug um Nachwuchs, sondern versucht vornehmlich aus dem Ausland zu akquirieren. Man habe die junge Genration quasi aufgegeben und mache sich auch nicht attraktiv für potenziell Interessierte: Fachkräftemangel? Ein hausgemachtes Problem

Unterm Strich wird von einer Lobby mit viel Wirtschaftskraft eine Bildungspolitik der wirtschaftlichen Verwendbarkeit forciert, die garantiert, dass noch mehr Umsatz gemacht werden kann. Auf der Strecke bleiben nicht nur alte Bildungsideale, sondern Lebensqualität und Sicherheit. Und dies ist als Folge der Globalisierung ein unaufhaltsamer Trend.

Das lässt hoffen. Nicht.

Es sei denn, wir verabschieden uns von dem ganzen sentimentalen Werte-Kram, sagen JA zum Hier und Jetzt, und lassen uns munter für dumm verkaufen.