Die heutigen Halbjahreszeugnisse bringen mich mal wieder an persönliche Grenzen.
Wie alle Kollegen habe ich devot den Berg an schriftlichen und mündlichen Teilnoten, die sich über ein Halbjahr ansammeln, zu einer kompakten Endnote zwischen 1 und 6 verwurstet, die nun auf den Zeugnissen meiner Schüler prangt. Als Klassenlehrerin kam mir dann bei meiner eigenen Klasse die Ehre zu, die Zeugnisse auszuteilen und einige Kinder in ein Meer von Tränen zu stürzen. Statt der erwarteten 3 steht da eine 4, statt der 1 vom letzten Jahr eine 2.
Bei den versetzungsgefährdeten Kindern fließen keine Tränen, die haben ohnehin schon resigniert.
Wie sich wohl Außenstehende eine Zeugnisvergabestunde aus Perspektive eines Lehrers vorstellen? Brave „Discipuli“, die gesittet zum Pult schleichen, um demütig und leise das bedeutungsschwangere Papier entgegenzunehmen, um es dann einsichtig zu studieren und in feierlich mitgebrachte Dokumentenordner zu heften um es mit Stolz oder Scham nach Hause zu tragen…
Die Zeugnisvergabe ist alles andere als ein feierlicher Moment.
Faktisch sind die Schüler (zumindest in den unteren Jahrgängen) in den Unterrichtsstunden vor der Zeugnisausgabe schon kaum noch zu gebrauchen, quengeln nach Spielen oder Filmen, toben heute besonders wild oder albern. Zu Beginn der besagten Stunde gibt es überwiegend aufgeregtes und ohrenbetäubendes Durcheinanderblöken, das sich während der Stunde, die traditionell mit langweiligem Orga-Krempel gefüllt wird, auch nur bedingt legt. Beginnt man dann die Zeugnisse nacheinander auszugeben, indem man Kinder einzeln und mit feierlicher Mine nach vorne ruft, so wird dieses Prozedere spätestens nach dem vierten Kind davon getrübt, dass eines der ersten vier schon begonnen hat zu weinen.
Kinder zum weinen bringen, wer möchte das nicht?
In diesem Moment springen in der Regel Freundinnen oder Freunde des weinenden Kindes auf, um mit großem Engagement zu trösten, dabei selbst einen Blick auf das angeblich so schlechte Zeugnis zu erhaschen und im Kopf schnell den Vergleich zur eigenen erwarteten Note zu ziehen. Währenddessen haben schon ein paar weitere Kinder ihr Zeugnis erhalten und es eröffnen sich mehrere Tränenherde, die von lautstark diskutierenden Kindertrauben umringt werden.
In der Mitte ich als einziger Erwachsener im Raum, der durch seine Noten teilweise die Tränen mit zu verantworten hat.
Ich rede hier ausnahmsweise nicht von der Sinnhaftigkeit von Noten oder ausformulierten Gutachten. Auch rede ich nicht davon, dass es durchaus schlechte Leistungen gibt und dass diese auch definiert und benannt werden müssen.
Zeugnisvergabe fühlt sich einfach Scheiße an!
All das mal außen vor – es fühlt sich einfach Scheiße an, einem Kind zu übermitteln, dass es irgendwelche künstlich geschaffenen Standards in irgendwelchen angeblich lebensrelevanten Fächern nicht erfüllt. Dass sein Fortschritt zwar da war, aber nicht groß genug, nicht altersgemäß, sein Bemühen zwar wahrgenommen wurde, aber nicht zum Ziel führte – oder ganz ausblieb. Dass es auf dieser Schulform möglicherweise nicht erfolgreich sein wird.
Ja, ja, es gibt 1000 Gründe, durch die sich dieser Zirkus legitimieren lässt und einige davon teile ich durchaus. Aber dieser Notendruck, dieser Systemdruck, das macht nicht nur Schüler kaputt.
Ich hasse Zeugnistag!
Man erlaube mir, ob meiner niedergeschlagenen Stimmung Pink Floyd zu zitieren „All in all you’re just another brick in the wall.“
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Eine Antwort
Liebe Textourette,
vielen Dank für deine scharfsinnigen Beobachtungen aus dem Schulleben. Du sprichst mir aus der Seele, wenn du die Zustände in der Schule beschreibst, vor allem die am letzten Schultag. Wer kennt nicht auch die zermürbenden „Notenbesprechungen“, die bis zum ungeliebten Zeugnisvergabetag zur einer ganz besonderen Stimmung führen und am Sinn von Noten und des „Besprechens“ zweifeln lassen.
Schade, dass du nicht mehr Lehrerin bist! Wirst du in Zukunft weiter über deinen ehemaligen Arbeitsplatz schreiben? Hoffentlich geht dir nicht das Material aus.
Alles Gute für deine Zukunft,
Melanie