Den folgenden Artikel eines „empörten Kinderarztes“ las ich vor einigen Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/ein-arzt-empoert-sich-lasst-die-kinder-in-ruhe-12815971-p3.html

Der Autor schildert anhand des Beispiels des siebenjährigen Leon aus seiner Praxis, wie einem scheinbar vollkommen normal entwickelten Jungen nach wenigen Wochen in der Grundschule seitens der Lehrkraft eine Auffälligkeit diagnostiziert wurde, die für ihn fachlich nicht nachvollziehbar sei. Nach Aussagen der Grundschullehrerin habe der Junge Ergotheraphie nötig, damit frühzeitig Lern- und Entwicklungsprobleme angegangen werden könnten. So weit, so gut. Ich habe gemischte Erfahrungen mit Ergotherapie bei meinen Schülern gemacht. An sich kann das für das Kind eine tolle und sinnvolle Sache sein, man muss aber ganz klar sehen, dass hier im Rahmen einiger Sitzungen ein psychomotorischer Entwicklungsrückstand aufgefangen werden soll, der sich über Jahre aufgebaut hat weil bestimmte Fähigkeiten nicht trainiert und ausgebildet werden konnten. Viele Eltern beschreiben die Ergotherapie als grundsätzlich gut, unterm Strich ändert sich jedoch oft wenig. Zu groß sind die Lücken, die hier gestopft werden sollen. Im Einzelfall ist also die Sinnhaftigkeit von Ergotherapie zu hinterfragen. Dennoch halte ich es für absolut notwendig, Eltern schon frühzeitig auf Entwicklungsverzögerungen aufmerksam zu machen und Wege aufzuzeigen, wie dies zumindest in Ansätzen aufgearbeitet werden kann. Der Knackpunkt steht unausgesprochen dahinter „Es muss offenbar an anderer Stelle aufgearbeitet werden, da es im Setting des Elternhauses in den letzten Jahren ja nicht passieren konnte.“ Aber dazu später.

Dass der Kinderarzt angesichts der Empfehlung der Lehrerin rot sieht kann ich mir gut vorstellen. Sie sind aber auch eine Plage, diese hysterischen Grundschul-Tanten. So ganz ohne medizinisches oder psychologisches Fachwissen einfach das Kind als auffällig abzustempeln? Das geht ja nun nicht.Der Arzt, der Leon in seinem Leben sicherlich schon 20 mal für 15 Minuten gesehen hat (das sind ja fünf ganze Zeitstunden!), kann an dem Jungen nichts auffälliges finden. Zwei Arme, zwei Beine, hört auf beiden Ohren und ist nicht rot-grün blind. Er kann vermutlich auch schon sehr lebendig von den komplexen Fähigkeiten der für Erwachsene unaussprechlichen Spezial-Pokemons erzählen. Alles völlig alters- und geschlechtsgemäß. Die Pädagogin soll also bitte mal einen Johanniskraut-Tee trinken und sich den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden anstatt mit ihren Kassandrarufen die Pferde scheu zu machen.

Ihre jahrelange Erfahrung aus der Begleitung und Beschulung vieler tausender Kinder und ihr äußerst geschärftes Auge für die kindliche kognitive Entwicklung sind hier leider keine objektivierbare Größe. Konzentrationsspannen, Abstraktionsfähigkeit und Sozialkompetenz sind nicht von Normtabellen ablesbar. Ergo wiegt das Urteil des Mediziners über die psychomotorische Entwicklung des Kindes schwerer als das der Pädagogin. Passt in die gesellschaftliche Wahrnehmung des Arztes als fundiert ausgebildeter Fachwissenschaftler und des Lehrers als gescheitertem Beamtendepp am Fuße der Hackordnung.



Artikel wie diese gibt es zu genüge. Doofe Lehrer, arme Kinder, die Wissenschaft hat’s sowieso besser gewusst. Doch bei der weiteren Lektüre ergreift der Arzt hier eine unerwartete Position, die ich tatsächlich voll und ganz unterschreibe. Und ich dachte schon wir werden keine Freunde…


Bei den meisten auffälligen oder gestörten Kindern fehlt es an ausreichender Anregung in den Familien. Wo – möglichst noch im Kinderzimmer – von morgens bis abends der Fernseher oder die Spielkonsole läuft, wo es keine gemeinsamen Mahlzeiten gibt, kein Vorlesen, keine Spiele, dort verkümmern die geistigen und körperlichen Anlagen, mit denen Kinder auf die Welt kommen. (…) Die große Zunahme gestörter und auffälliger Kinder hat (…) soziogene Ursachen, also Ursachen, die mit der psychosozialen Situation der Kinder zusammenhängen.“

Danke, Doc, das deckt sich absolut mit meinen Erfahrungen. Und, ja, auch ich stehe voll im Leben und kenne die Ansprüche an moderne Familien, ich lebe nicht in einem weltfremden Pädagogen-Paralleluniversum. Die Erfahrung ist leider die: Wo auffällige Kinder, da ungute familiäre Strukturen. Sei es die mangelnde Auseinandersetzung mit dem eigenen Kind, die symbiotische und erstickende Eltern-Kind-Beziehung, das Vorleben falscher Werte oder die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit, dem Kind Grenzen zu setzen und eben nicht des Kindes bester Freund zu sein.

Zur Thematik ADHS äußert sich der von mir sehr geschätzte dänische Familintherapeut Jesper Juul in seiner Kolumne ganz ähnlich. Er sieht jedoch auch viele Ärzte, die weniger kritisch als der zitierte Vertreter im Diagnose- und Therapiespiel mitmischen:

„Es gibt die Diagnose (ADHS) zweifellos – und es hat sie vor 100 Jahren gegeben. Heute wird sie aber verwendet, um von einem Konflikt abzulenken: dass nämlich die Eltern oft nicht wissen, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen. ADHS ist in vielen Fällen die Folge professioneller Vernachlässigung. Die Ärzte spielen leider oft mit. Die dänischen Kinderpsychiater haben sogar zugegeben, dass sie 40 bis 45 Prozent der Fälle von kindlichem ADHS falsch diagnostizieren.“

Der ganze, ausgesprochen lesenswerte Artikel ist hier zu finden:
http://derstandard.at/1363711375599/ADHS-ist-Folge-professioneller-Vernachlaessigung

Als Pädagogen, Ergotherapeuten oder sonstige pädagogische Fachkraft können wir nur punktuell versuchen, einige Fähigkeiten zu fördern und zu trainieren. In den meisten Fällen müssen wir anerkennen, wie beschränkt unsere Einflussmöglichkeiten hier tatsächlich sind. Die Empfehlungen an die Eltern, professionelle Hilfe aufzusuchen entsteht oft aus einer Kollision pädagogischer Einflusssphären. Wo hört die Zuständigkeit und Verpflichtung der Schule zur Erziehung auf und wo fängt Pflicht und Recht des Elternhauses an? In wie weit ist es überhaupt angemessen, als Schule auf persönlicher Ebene die Mechanismen des Elternhauses zu hinterfragen? Das ist ein hypersensibler und oft ausgesprochen unangenehmer Kommunikationsbereich. Genau in dieser Thematik laufen die heftigsten Auseinandersetzungen zwischen Schule und Eltern ab. Hier werden Egos gekränkt, Persönlichkeitskonzepte angezweifelt, Lebenskonzete in Frage gestellt. Oft erfolgt hier ein Kommunikationsabbruch seitens des Elternhauses, es ergeht Beschwerde über das betreffende pädagogische Personal bei der Schulleitung oder im Extremfall erfolgen Drohgebärden mit dem Anwalt. In gewisser Weise verstehe ich diese Reaktionen.

Ich denke, auch bei mir würden Schutz- und Kampfmechanismen wach, wenn mich ein scheinbar Außenstehender derart konfrontativ auf die nicht ganz so erfolgreiche Entwicklung und Erziehung meiner Kinder und damit auf meine ganz intimen persönlichen Schwächen anspräche. Lehrern und Erziehern ist ihre undankbare Position hier mehr als bewusst und keiner reißt sich darum, Eltern schlechte Nachrichten über ihre Kinder zu übermitteln. Wer möchte schon das Kind beim Namen nennen und die Eltern damit konfrontieren, dass bei ihnen vielleicht schon seit langer Zeit chronisch etwas falsch läuft? Wie viel leichter ist es da, entweder gar nichts zu sagen oder den Eltern in Aussicht zu stellen, das Problem sei objektiv und von einer außenstehenden Person behandelbar? Hier bietet sich die anscheinend optimale Lösung. Das elterliche Gewissen wird beruhigt, denn es wird etwas getan. Das muss auch noch nicht einmal selbst durch viele teilweise unbequeme Stunden der Auseinandersetzung oder der gemeinsamen Unternehmungen geschehen. Dem Rat des Lehrers wird Rechnung getragen. Dem Kind wird (hoffentlich) geholfen. Meist ist danach alles wie vorher.

Dass besagter Mediziner hier nur fragend die Brauen heben kann ist nur zu nachvollziehbar.