In seinem Blogpost 9 ehrliche Fragen eines Schülers an seinen Lehrer äußert der junge Blogger Ben Paul, der sich selbst als „Elite-Uni-Abbrecher, wanna-be-Entrepreneur und Minimalist“ charakterisiert, seine Kritik am Schulsystem in einigen kontroversen (?) Fragen. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, darauf zu antworten und damit eine Lanze für engagierte und system-hinterfragende Lehrer zu brechen:

Hey Ben,
ich würde gerne deine Fragen aus Lehrersicht beantworten. Dabei spreche ich natürlich nur für die Gruppe von Lehrern, die meine Ansichten teilen…


1.) Warum vermitteln so viele Lehrer den Eindruck, dass sie alles wissen? – Ja, warum stellen sie gar manchmal ihre subjektiven Meinungen als objektives Wissen dar anstatt menschlich zu ihren Wissenslücken zu stehen?

Tut mir Leid, dass du bisher nur an solche geraten bist. Wir wissen natürlich nicht alles und viele von uns gehen damit offen und konstruktiv um. Wir versuchen, mit unseren Schülern gemeinsam zu entdecken und sind offen und neugierig für neue Antworten. Und glaub mir, viele von uns stellen sich noch deutlich häufiger die grundsätzliche Sinnfrage als unsere Schüler. Es ist fast ein Bisschen naiv von so vielen Schülern und Studenten zu denken, ihre Lehrer stünden sklavisch hinter dem, was sie tun müssen, und seinen nicht in der Lage, dies zu hinterfragen. Nur leider sind wir in einer Position, in der wir das oft nicht kund tun können oder dürfen. Vor Allem tut man das nicht vor seinen Schülern. Die sind ja schon verunsichert genug. Diese Fragen trägt man als Lehrer auf anderer Ebene aus.


2.) Warum denken so viele, dass ich nur in der Schule lernen kann und ich aufhöre zu lernen, wenn ich den Klassenraum verlasse?

Das denkt nun wirklich kein Lehrer. Wir alle wissen, dass schulisches Lernen nicht so umfassend sein kann wie Lernen in der Lebenswelt. Allerdings hat Schule auch die Chance, Schülern Interessensgebiete zu eröffnen, die sich Ihnen sonst nie erschlossen hätten. Da ist natürlich viel dabei, was einen nicht interessiert, aber auch so viel Schönes, Bereicherndes. Dass Schule aber ein künstlicher Lernraum ist, in dem vorwiegend aufgrund von extrinsischer Motivation gelernt wird, ist uns allen klar. Ich hätte auch mehr Bock, NICHT auf die Schule festgenagelt zu sein.


3.) Warum werden vor allem diejenigen belohnt, die so denken wie Sie – und die bestraft oder schlechter benotet, die anders denken?

Tut mir Leid, dass du das bisher nur so kennen gelernt hast. Sehr viele Lehrer lassen selbstverständlich andere Meinungen neben ihrer persönlichen gelten. Wenn die Meinung aber ist, dass 2+2 nicht 4, sondern 5 ist, ist das natürlich Blödsinn. Ich denke, dieses logische Wissen meinst du damit nicht, sondern eher die geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Hierbei geht es oft gar nicht darum, welche Meinung richtig ist, sondern darum, zu lernen, seine eigene Meinung fundiert überhaupt erst mal zu bilden und diese dann argumentatorisch schlüssig zu formulieren. Viele (die meisten?) Lehrer erkennen auch unpopuläre Meinungen an, sofern sie schlüssig begründet, und nicht aus der Luft gegriffen sind. Wenn du Anderes erlebt hast, ist das bedauerlich.


4.) Warum wird uns vermittelt, dass das was in Lehrbüchern steht die absolute und endgültige Wahrheit darstellt und somit nicht in Frage gestellt werden darf?

Wird das wirklich so vermittelt? In allen Lehrbüchern kann doch nur der Kenntnisstand nach einer bestimmten Forschungsrichtung dargestellt werden. Oft sind Inhalte überholt oder sehr pauschalisiert. Man bedient sich als Lehrer bisweilen aus fünf Schulbüchern parallel weil so viel Schrott geschrieben steht. Auch ist es ein zentrales Ziel (z.B. des Geschichtsunterrichts), in den Schülern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass alles, was wir über unsere Geschichte wissen, ein Konstrukt ist. Stichwort Konstruktivismus. Das ist Grundlage jedes Lehrerseminars. Auch hier wieder schade, wenn du das in deiner Schulzeit anders erlebt hast.


5.) Warum wird uns vermittelt, dass der Weg zu “Erfolg” so einfach ist und nur über eine gute Uni führt?

Never ever! Für sooo viele Schüler habe ich Eltern quasi angebettelt, sie vom Gymnasium zu nehmen und ihnen endlich einen Ausbildungsweg zu ermöglichen, der den Neigungen und Interessen des Schülers entspricht. Der Glaube, heutzutage brauche jeder Abitur, ist ein gesellschaftlicher Trend, der vom Mittelstand ausgeht und der zu einer verheerenden Spirale führt. Lese dazu den FAZ-Artikel „Müssen bald alle studieren?“  Die Schulen haben damit zu ringen, sie sind nicht Verursacher des Problems.


6.) Warum lernen wir vor allem uns zurückzuhalten und geradeaus zu denken anstatt den Status quo in Frage zu stellen und unsere ganz eigenen Ideen für Probleme zu entwickeln?

Die wirklich guten Schüler sind die, die genau das tun, nämlich quer denken. Das können aber nur die Wenigsten. Die Allermeisten sind viel zu bequem und uninteressiert, sich wirklich mal Gedanken zu machen. Das ist so schade und macht unseren Beruf so viel langweiliger! Wo sind die ganzen unangepassten Schüler hin? An meiner Schule gibt es keinen einzigen Punk, Metaller, Paradiesvogel oder sonst wen, der irgendwie äußerlich aus dem Rahmen fällt und zeigt, dass er anders denkt. Alle gleichförmig stupide Abercrombie-Zombies. Und die Meisten denken konservativer als ihre eigenen Eltern. Erschreckend viele Gymnasiasten von heute können nur noch konsumieren, snapchatten, instagrammen und zocken. Hauptsache man setzt sich selbst in Szene und kommt virtuell geil rüber. Querdenken und sich engagieren ist aus der Mode. Aber alle wollen fett Geld verdienen. Wenn es um Berufswünsche geht, werden mit den erbärmlichen Google-Skills erst mal Gehälter ermittelt und dann stolz verkündet, ich werde Investment Banker oder Anwalt. Da gibt es fett Asche. Oder mache natürlich was mit Medien, denn das mache ich ja ohnehin schon den ganzen Tag, nur ohne Geld dafür zu kriegen. Dabei haben nur wenige wirklich was auf dem Kasten außer auswendig zu lernen. Dennoch halten sich die meisten Schüler für sehr individuell, originell, und sehr eigenständig in ihrem Denken. Was ich sehe ist jedoch zum größten Teil Einheitsbrei. Und das gerade auch in der Oberstufe, wo sich viele in ihrem typisch gymnasialen Dünkel schon für besonders ausgereifte und aufgeklärte Persönlichkeiten halten.

Neulich behauptete eine Schülerin vorwurfsvoll, in der Schule lerne man ja überhaupt nicht, kritisch zu hinterfragen und seinen eigenen Kopf zu benutzen. Dem kann ich absolut nicht zustimmen, denn das ist nun wirklich unser Kerngeschäft. Man nimmt seine Umwelt eben immer nach eigenen Selektionsmustern wahr und die Behauptung der Schülerin halte ich schlichtweg für Blindheit und Anti-Haltung. Meiner Meinung nach bieten gerade die modernen Unterrichtsinhalte und ihre Aufbereitung ständig und so sehr wie nie zuvor die Möglichkeit dazu, sich an kontroversen und hinterfragenden Diskussionen zu beteiligen.
Diese Einladung wird von vielen aber gar nicht als solche wahrgenommen weil die meisten Schüler gar nicht merken, dass viele Lehrer im Grunde permanent den Status Quo hinterfragen, subversive Botschaften vermitteln, gegen den Mainstream schwimmen und ihre Schüler genau dazu befähigen wollen. Frustriert müssen viele passionierte Pädagogen beobachten, dass Schüler auch von wirklich kontroversen Themen und Systemkritik nicht gepackt werden können. Unterrichtsinhalte werden als gleichförmige Nulllinie wahrgenommen, denn was vom Lehrer kommt MUSS ja „scheiße“ und langweilig sein. Sehr viele Schüler merken nicht, was ihnen für Lernangebote gemacht werden.
Beim kritischen Hinterfragen handelt es sich meines Erachtens nach schlichtweg um eine Haltung zur Welt, und nicht um einen Skill, den man nach Rezept lernen kann. Die Neigung und Fähigkeit zum Querdenken bringen Schüler schon von sich oder von zu Hause aus mit. Oder eben nicht. Die kann nicht vermittelt werden, wenn man nicht offen dafür ist.


7.) Warum wird uns vermittelt, dass standardisierte Tests und deren Benotung etwas über unseren Wert und unser inneres Potential aussagen?

Wer vermittelt das? Die Lehrer? Standardisierte Tests sind eine Pest! Siehe PISA. Wenn man als Schüler seinen Selbstwert an so etwas misst, hat man schon verloren. Ich kenne das auch nur von sehr jungen Schülern, seinen Selbstwert und Potenzial derart an Noten festzumachen. Später hat man in der Regel gemerkt, dass es das nicht sein kann. Warum standardisierte Tests wie PISA ein Desaster sind schreibe ich hier:

Schule im Reformwahn. Wie die Bildungspolitik sich von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisieren lässt… und sich dabei vormacht, das Beste für die Schüler zu tun.


8.) Warum wird uns beigebracht, dass wir dankbar sein sollten für unsere freien Tage außerhalb des Klassenraums? Darf mir Lernen etwa keinen Spaß machen?

Ist das so? Ich bin selbst am dankbarsten für meine freien Tage außerhalb des Klassenraums 😉 Und natürlich soll Lernen Spaß machen. Das schafft man in der Schule teilweise ja auch, aber natürlich nicht mit solchen Flow-Erlebnissen, wie man sie hat, wenn man wirklich intristisch motiviert lernt. Bei dir scheint die Gleichung zu gelten: Schulisches Lernen = kein Spaß, alles außerhalb von Schule = Spaß. Wie schade, dass dich Schule so verbittert hat. Es geht auch weniger drastisch und schwarz-weiß als in deiner persönlichen Erfahrung. Und ob jetzt wirklich jeder Schüler seine Freizeit dazu nutzt, ganz toll viel zu erleben und dabei zu lernen, bezweifle ich sehr. Einige haben wirklich schöne Hobbies und Lebensumstände, in denen das möglich ist. Viele aber nicht. Da wird nur gechillt und sich mit stupidem Mist betäubt weil die Leute sich selbst schon aufgegeben haben und nichts vom Leben wollen. Auch vergisst du die wahnsinnig vielen Schüler, die in ihrem Elternhaus den Alptraum auf Erden erleben. Deren Eltern stoffliche Süchte haben, nur rumhängen, schlagen oder den Kindern sonstwas antun. Für diese Schüler ist Schule die einzig konstante Normalität und ein Schutzraum. Und die einzige Chance auf Bildung und Selbstbestätigung.


9.) Warum wird mir vermittelt, dass diese Bildung so wichtig ist für meine Karriere und mein Leben? Warum muss ich mir all die anderen Fragen, die mein Leben spannend und reich machen selbst stellen?

Ich glaube, dass du da aus einer sehr privilegierten Position sprichst. Das ist meines Erachtens ein “First-World-Problem”. Offensichtlich hast du es ja zu etwas gebracht, was dir aufgrund deiner allgemeinen Lebensumstände (sozialer Status und Bildungs-Affinität des Elternhauses?) und auch aufgrund deiner Schulbildung möglich war. Auch wenn du im Endeffekt das System ablehnst, bist du doch ein großer Nutznießer davon (gewesen). Wenn du der Schule überhaupt keine Fragen abgewinnen kannst, die das Leben interessant machen, frage ich mich, ob du diese Aspekte nicht sehen wolltest oder das inhaltliche Angebot nicht annehmen konntest. Du wertest die Arbeit von Lehrern so dermaßen ab und stellst sie als ignorante, verblendete Deppen dar. Dabei arbeiten so viele von uns Tag und Nacht um interessanten Unterricht zu machen und schütten derartig viel Herzblut in ihren Beruf. Dass das alles in einem kranken System geschehen muss, macht viele von uns mehr als wütend und traurig.

Es tut mir sehr Leid, dass du Schule als so etwas Schlimmes erlebt hast. Das erleben sehr viele Lehrer leider genau so. Und trotzdem stehen sie jeden Tag um 8 Uhr vor 30 Leuten, mit wohl überlegten Stunden, einem Lächeln im Gesicht und der Faust in der Tasche. Wenn die Schüler oder Ex-Schüler nun alles Übel des Systems auf eben diese Lehrer schieben, kommt das rüber wie eine Ohrfeige. Und ziemlich unreif.


Nichts für Ungut, ich musste mich grade mal entladen 😉