Lies in diesem Blogbeitrag die Vorab-Stellungnahme von Isabell zur Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung im NRW Landtag zum Thema „Jetzt umsteuern und Weichen stellen für einen zeitgemäßen, attraktiven Arbeitsplatz Schule“.

Sehr geehrter Herr Braun,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich für die Möglichkeit der Stellungnahme anlässlich der Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung zum „Arbeitsplatz Schule”. Ich bin eingeladen worden, als ehemals verbeamtete Studienrätin des Landes NRW und als systemische Coachin für die berufliche Neuorientierung von Lehrkräften meine Erfahrungen zum Thema Lehrerausstieg in NRW darzulegen.

Verbeamtete Gymnasiallehrerin im Land NRW war ich von 2008 bis zu meinem freiwilligen Antrag auf Entlassung aus dem Dienst im Jahr 2015. Seit 2018 arbeiten ich und mein mittlerweile achtköpfiges Team mit Lehrkräften in beruflichen Krisen aus ganz Deutschland, ca. 35% davon aus NRW.

Aktuell sind wir der größte Anbieter für berufliches Neuorientierungscoaching für Lehrkräfte in Deutschland. Diese Aufgabe nehmen wir sehr verantwortungsvoll wahr. Es liegt nicht in unserem Interesse, Lehrkräften in Krisen in der Kündigung des Lehrberufs einen vermeintlichen Lösungsweg für ihre beruflichen und privaten Herausforderungen anzupreisen. Gerade in Zeiten des Lehrkräftemangels ist uns die kritische Relevanz unserer Arbeit bewusst und wir beraten nicht zum leichtfertigen Verlassen des Lehrberufs. Gleichwohl eröffnen wir für unsere Kund*innen einen professionellen Arbeitsraum, in dem diese Entscheidung selbstbestimmt, differenziert und ohne moralische Verurteilung geprüft werden kann. Ein Teil unserer Kund*innen, die mit bereits formulierter Kündigungsabsicht die Zusammenarbeit mit uns begonnen haben, revidiert durch den Coachingprozess seine Entscheidung und bleibt dem Schuldienst durch uns erhalten.

Zur verdeckten Dimension des Themas Lehrerausstieg

Das Thema Lehrerausstieg ist unter Lehrkräften weithin tabuisiert, von Scham, Schuldgefühlen, Angst, Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet. Lehrkräfte tragen somit ihre berufliche Krise meist im Verborgenen aus. Erahnen lässt sich die wahre Dimension des Themas Lehrerausstieg in Deutschland daher nur durch verdeckte Indikatoren: Auf Social Media tauschen sich in einschlägigen Gruppen an die 30.000 Lehrkräfte und Ex-Lehrkräfte zu Möglichkeiten des Berufswechsels aus. Gewerkschaften und Verbände berichten von einem Ansturm von Lehrkräften, die sich zu Kündigungsbedingungen informieren möchten. Psychotherapeut*innen und private Coaches berichten von einer verstärkten Frequentierung durch Lehrkräfte in Krisen.

Diese Wege werden gewählt, weil das deutsche Schulsystem in puncto Laufbahngestaltung von Lehrkräften keine Karriereberatungs- und Supervisionsstrukturen oder zeitgemäße Personalentwicklungskonzepte aufweist und die sehr überschaubaren Laufbahngestaltungsmöglichkeiten jenseits von Schulleitung und Fachleitung intransparent sind.

Lehrkräfte-Neuorientierungscoaching in Zahlen

Bis heute haben wir mit über 1500 Lehrkräften aus ganz Deutschland anlässlich ihrer beruflichen Neuorientierung entgeltlich zusammengearbeitet, davon stammen ca. 35% aus NRW. Auch in unseren kostenfreien Angeboten sind Teilnehmer*innen aus NRW stets stark vertreten.

Etwa 65% unserer Kund*innen setzen während oder bis 24 Monate nach dem Coaching einen Exit aus dem Lehrberuf durch Kündigung um, 20% verfolgen als Zielsetzung nicht den gänzlichen Berufswechsel, sondern den Aufbau einer Nebentätigkeit. Die verbleibenden 15% sind dienstunfähig und suchen nach sinnstiftenden Wirkungsfeldern nach einer Zurruhesetzung, da sie grundsätzlich gerne arbeiten möchten, eine anderweitige Verwendung in den allermeisten Fällen jedoch vom Dienstherren nicht angeboten wird.

Wer geht? Demografie der Aussteiger*innen in unserem Coaching

  • 85 % Frauen
  • 80 % verbeamtet
  • Alter: 27 – 55 (gleichmäßige Verteilung)
  • ausgewogenes Verhältnis von kinderlosen Personen zu Eltern
  • ca. 80% in Teilzeit, ca. 50% mit Burnouterfahrung, ca. 15% Dienstunfähig
  • Alle Schulformen.
  • Schwerpunkte: Grundschule, Gymnasium, Sonderpädagog*innen
  • 40% erfahrene Funktionsstelleninhaber*innen und Führungskräfte: (stellvertretende) Schulleitung, Fachleitung, Hochschullehrende in Abordnung, sonstige Funktionen

Typische Muster:

  • junge Lehrkraft, psychosozial überlastet, frühe Karrierekorrektur
  • Rückkehrer*innen nach zeitlichen oder räumlichen Abstand (Elternzeit, Sabbatjahr, Dienstunfähige vor Wiedereingliederung, Rückkehrer aus Auslandsschuldienst, Rückkehr aus Abordnung an außerschulische Einrichtung)
  • Führungskräfte und Funktionsstellen-Hopper zwischen psychosozialer Überlastung und Professionalisierungs Bore-Out. Hadern mit persönlichem Stillstand und erstickter Kreativität

Typische Haltungen & Werte:

  • pädagogisch und didaktisch ambitioniert, gewissenhaft, schülernah, hohes Arbeitsethos
  • oft Beschäftigung mit Schulentwicklung und innovativen Unterrichtskonzepten
  • weitgehend Zustimmung zur Aussage: „Eigentlich bin ich gerne Lehrer*in.“

Fazit: Es gehen vorwiegend die entwicklungsorientierten und leistungsbereiten Lehrkräfte.

Warum verlassen verbeamtete und unbefristet beschäftigte Lehrkräfte den Schuldienst?

1. Hohe psychosoziale Belastung und Überfrachtung mit Aufgaben bei mangelnder Wertschätzung

Besonders hohen Leidensdruck verursacht die alltägliche Stressbelastung, die an vielen Schulen ohne ruhige Rückzugsräume und Pausen auf Lehrkräfte einwirkt. Verletzungen des Arbeitsschutzes sind ein charakterisierendes und alltägliches Merkmal des Lehrberufes. Dies bezieht sich auf Gesundheitsschutz (dauerhafte Lärmbelastung von bis zu 80 db, Schadstoffbelastungen von Gebäuden, Pandemie-Konzepte, basale Grundbedürfnisse wie Trinken, Essen und der Gang zum WC müssen oft über Stunden aufgeschoben werden), Arbeitszeitgestaltung (nicht einhaltbare gesetzlich vorgeschriebene Ruhepausen, Nicht-Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden, unzeitgemäß hohe Deputate und Ausrichtung der Besoldung ausschließlich an Deputatsstunden), psychosozialen Arbeitsschutz (Maßnahmen zur Vermeidung von stressbedingten Erkrankungen, Mobbing, Bossing, körperliche und emotionale Bedrohungen und Übergriffe) und viele weitere Bereiche.

Der Lehrberuf wird von vielen als vollkommen entgrenztes Arbeitsfeld wahrgenommen, in dem ständige Verfügbarkeit und Kompensation für strukturelle Mängel als Selbstverständlichkeit eingefordert werden. Dies verstärkt sich an Schulen mit schlechter Führung und ohne etablierte Teamstrukturen. Gleichzeitig erlebe ich die Lehrkräfte in unserem Coaching grundsätzlich als sehr leistungsbereit. Wenn hohe Leistungsbereitschaft über lange Strecken jedoch keine Wertschätzung erfährt, führt dies zu Frustration. Alleine schon die Sicherstellung grundlegender Arbeitsschutzmaßnahmen für Lehrkräfte sollte eine selbstverständliche Mindestanforderung sein.

Stellvertretend für die mangelnde Wertschätzung durch den Dienstherren und bürokratische „Entmenschlichung” von Lehrpersonen als Aktenvorgang soll hier das würdelose Entlassungsverfahren aus dem Dienst erwähnt werdenLehrkräfte, die über Jahre und Jahrzehnte gewissenhaft Dienst geleistet haben werden ohne Abschlussgespräch und in NRW mit einer finanziell ruinösen, unzeitgemäßen Nachversicherung ziehen gelassen statt, wie in der Mehrheit der Bundesländer und beim Bund längst üblich, deren Pensionsansprüche durch ein Altersgeld portabel zu machen.

2. Pädagogische Werteentfremdung

Lehrkräfte in unserem Coaching weisen in der Regel ein hohes Arbeitsethos auf und sind bestrebt, sich und ihren Unterricht stetig zu verbessern und dazuzulernen. Gleichzeitig beobachten diese Personen täglich, dass ihre Schüler*innen eine intensivere pädagogische Begleitung, Förderung und Forderung benötigen, als dies in der Realität des Schulalltags möglich ist. „Pädagogische Triage” ist daher Alltag. Lehrkräfte fühlen sich reduziert auf Verwaltungsaufgaben, Leistungsmessung und Selektion und sehen dabei einen beträchtlichen Teil ihrer Schüler*innen pädagogisch hinten herunterfallen.

„Dafür bin ich nicht angetreten”, ist eine weithin geteilte Aussage unter unseren Kund*innen. Angetreten hingegen sind sie, um Schüler*innen in ihrer Potenzialentfaltung zu begleiten, sie zugewandt zu fördern, Beziehungsarbeit zu leisten, freudvolles Lernen zu initiieren, kreative Prozesse und kritisches Denken anzustoßen. Diese Aufgaben sind ultimativ sinnstiftend im Lehrberuf und machen die eigentliche Attraktivität dieser Profession aus. Wenn all dies nur noch zur „Kür” neben Korrekturen, Verwaltungsaufgaben, Leistungsmessung und dem Hinterherhetzen von Lehrplänen degradiert wird, entsteht ein dauerhafter Konflikt zwischen persönlichen Werten und der tatsächlichen Rolle.

3. Austrocknen der Selbstwirksamkeit, Kreativität & professioneller Weiterentwicklung

An deutschen Schulen werden 17% aller Entscheidungen vor Ort getroffen, 83% der Entscheidungen auf höherer verwalterischer Ebene.¹ Die bürokratische Diffusion von Zuständigkeiten und Entscheidungsinstanzen macht Schulen handlungsunfähig und sorgt für eine unpragmatische und frustrierende Kultur der Lösungsverhinderung im Berufsalltag von Lehrkräften. Wünschenswert für NRW wäre hier eine Stärkung der Entscheidungskompetenz und Budgetierung von Schulen vor Ort nach dem Vorbild „Eigenverantwortliche Schule” in Niedersachsen.²

Viele Lehrkräfte fühlen sich reduziert auf die quantitative Abdeckung von Unterricht. Ihre professionelle Weiterentwicklung und allgemeine Qualitätsansprüche an die Lehrerfortbildung werden nicht als wichtiger Hebel für Sinnstiftung, Zufriedenheit und Qualitätssicherung priorisiert. Zudem bieten sich für die professionelle Weiterentwicklung von Lehrkräften nur sehr überschaubare Laufbahnwege: der des Verwalters (Schulleitung) und des Bewerters (Fachleitung). Dies entspricht oft nicht den Werten und Zielen von Lehrkräften, die ein ressourcenorientiertes Menschenbild pflegen. Eine Ausdifferenzierung von Laufbahnen jenseits von Verwaltung und Bewertung, die z.B. pädagogische, coachende, supervisorische Schwerpunkte aufweisen, wäre für unsere Kund*innen von echtem Mehrwert.

4. Negative Erfahrungen mit Dienstherren und Führungskultur in Schule

In vielen Schulen ist die Führung charakterisiert durch ein anachronistisches Leadershipverständis, das auf der Machtausübung von Schulleitungen basiert und damit einer schlechten Arbeits- und Kommunikationskultur im Kollegium Vorschub leistet. Oftmals sind entlastende Teamstrukturen nicht etabliert. Doch auch bemühte und wohlwollende Schulleitungen können nicht kompensieren, was aufseiten der Bezirksregierungen und Schulämter an wertschätzender Kommunikation und zugewandtem Personalmanagement versäumt wird. Fürsorgepflichtverletzungen (über Monate und teilweise über ein Jahr nicht eingeleitete BEM-Verfahren und Gesprächsangebote, Tolerieren von Mobbing und Bossing, Stillschweigensabsprachen über Schimmelbelastung von Räumlichkeiten) sind häufig durch uns zu beobachten. Oftmals rückgemeldet wird auch die Nicht-Einhaltung des Datenschutzes, wenn z.B. Personalräte ihnen anvertraute Informationen an Dezernent*innen oder Schulleitungen weitergeben und Lehrkräften daraus persönliche Nachteile erwachsen. Überhaupt machen viele Lehrkräfte die Erfahrung, dass ihnen Nachteile erwachsen, wenn sie Missstände monieren. So wurde einer Lehrkraft unseres Kundenstammes von ihrer Bezirksregierung geraten, eine Überlastungsanzeige zu stellen, um auf Missstände an ihrer Schule hinzuweisen. Die Anzeige blieb jedoch folgenlos. Zwei Jahre später wurde ebendieser Lehrkraft ein Antrag auf Nebentätigkeit abgelehnt, weil sie doch persönlich überlastet sei.

Von großer Aktualität und auch Abschreckung ist die Ohnmachtserfahrung bezüglich der Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs, wie sie durch die aktuelle Personalpolitik im Land NRW herbeigeführt wird. Gerade die Einschränkung von Teilzeitmöglichkeiten und Sabbatjahren, die Verwehrung von Versetzungsanträgen und Nebentätigkeitsanträgen, drohende Abordnungen an bis zu drei Schulen über lange Anfahrtswege und die immer schwieriger werdende Vereinbarkeit von Familie und Lehrberuf bewegen Lehrkräfte zu kündigen oder noch häufiger: sich dem aktiven Dienst mit den systemimmanenten Mitteln (Beurlaubung, Dienstunfähigkeit) temporär oder ganz zu entziehen, statt verlustreich zu kündigen.

Zur Entwicklung der Dienstunfähigkeitsquoten erlaubt der Blick nach Bayern eine Trend-Prognose für das Land NRW. Seit 2020 greift in Bayern das „Piazolo-Paket”, das die Möglichkeiten von Teilzeit, Sabbatjahren und Beurlaubungen insbesondere für Lehrkräfte an Grund- und Mittelschulen einschränkt. Eine jüngst auf Anfrage der Abgeordneten J. Sandt (MdL) vom Bayerischen Kultusministerium veröffentlichte Statistik verzeichnet die Entwicklung der begrenzten Dienstunfähigkeitszahlen der letzten fünf Jahre und zeigt schulformübergreifend seit 2018 eine Steigerung um 140%, an Grund- und Mittelschulen sogar um 180%:

Quelle: Sandt³

5. Individuelle Faktoren

in den meisten anderen Berufen nicht zu vergleichbar erhöhten krankheitsbedingten Ausfallquoten führen wie im Lehrberuf. Ich möchte daher davor warnen, die individuellen Faktoren in ihrer Bedeutsamkeit für den Lehrer-Exit über die inakzeptablen Rahmenbedingungen zu stellen.

Letztlich sei noch erwähnt, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Lehrberuf Drop-Outs berichten, dass die Wahl für das Lehramtsstudium mangels anderer Ideen oder auf Wunsch des Elternhauses getroffen wurde. Dies weist auf den dringenden Bedarf hin, die Phase 1 der Lehrerausbildung mit intensiver Beratung, Aufklärung, Eignungs-Assessments und Praxiserfahrungen zu flankieren, um Fehlentscheidungen für diesen Karriereweg frühzeitig zu reflektieren und damit spätere Drop-Outs zu mindern.

Schlussfolgerung und Stellschrauben

Zur Stärkung des Arbeitsortes Schule muss der Fokus auf die „entwicklungsorientierten” Lehrpersonen gelegt werden, damit sie den Lehrberuf nicht verlassen. Gute Lehrpersonen müssen Lehrpersonen bleiben wollen. Zeitgemäßes Retention- und Talent-Management stellt den Schlüssel zu einer Steigerung der Attraktivität des Lehrberufs dar. Besoldung spielt dabei eine untergeordnete Rolle, die grundlegende und selbstverständliche Gewährleistung des Arbeitsschutzes eine sehr bedeutsame.

Lehrpersonen müssen sich zudem in ausgewählten Bereichen „profilieren” können, indem ihr Berufsauftrag geklärt, ihr Aufgabenspektrum reduziert und ihr Kompetenzaufbau fokussiert wird. Ein Lehrberuf mit Perspektiven braucht ein ausdifferenziertes Berufsfeld und innerberufliche Mobilität.⁴

Schulen brauchen eine evidenzbasierte Entwicklung. Wir brauchen mehr systematische Daten zum Mobilitätsverhalten von Lehrpersonen, ihren Motiven und Wegen und wir brauchen mehr Politikerinnen und Politiker, die ihre Entscheidungen auf solche Forschungsergebnisse stützen.

Mit freundlichen Grüßen

unterschrift_isabell-campagner

Isabell Probst

Quellen