Neben Gemeinschafts-, Gesamt-, Haupt-, Realschule und Gymnasium gibt es Nordrhein-Westfalen seit Sommer 2012 nun auch die Sekundarschulen, die in den Klassen 5-10 gemeinschaftliches Lernen ohne frühzeitige Schulformselektion gewährleisten sollen. Doch wer hat etwas davon? Wollen nicht alle „auf  Gymmi gehen“? In der Tat, in Zeiten, in denen in NRW über 40% eines Jahrgangs auf das Gymnasium drängen, muss man etwas für das Wohlbefinden der übrigen 60% tun. Und spätestens durch die OECD-Studie zur sozialen Gerechtigkeit von 2012 wissen wir: In Deutschland ist das Bildungssystem an der sozialen Spaltung des Landes Schuld. Hier schafft nur jeder Fünfte durch Bildung den gesellschaftlichen Aufstieg. Unser undurchlässiges Schulsystem ist aber auch perfide! Das darf nicht! Eine Reform muss her. Wir wollen durchlässiger werden, damit alle schlau und reich sein können. Und hier kommt der Auftritt von rot-grün!

Getreu dem Prinzip „wasch mir den Pelz aber mach mich nicht nass“ wurde nun also ein neues Schul-Kind in die NRW-Bildungslandschaft eingewechselt, ein anderes auf die Strafbank gesetzt, die Sturmspitze aber nicht in Frage gestellt.

Klingt ja sehr romantisch, was die rot-grüne Regierungskoalition unter Zustimmung der CDU in der Opposition in ihrem auf zwölf Jahre angelegten „Schulfrieden“ da auf den Weg gebracht hat. Die Hauptschule ist nun aus der Verfassung gestrichen! NRW selektiert fortab ganz politisch korrekt nicht mehr „nach unten“. Die „Hauptschuleignung“, die heutzutage durch den allgemeinen Druck auf die Grundschulen ohnehin nur noch sehr selten ausgesprochen wird, gibt es also mangels Hauptschule nicht mehr. Stattdessen öffnet sich die Tür der Sekundarschule, die eine größere Durchlässigkeit für Kinder sozial schwacher Familien zu höheren Abschlüssen gewähren soll. Sehr nobel von rot-grün, denn welcher Wähler würde diesem Punkt nicht zustimmen? (Dazu: http://www.spiegel.de/schulspiegel/nrw-fuehrt-sekundarschule-als-neue-schulform-ein-a-821100.html)

Und wer genau meldet sein Kind auf dieser Schule an? Das ist zunächst die Bevölkerung strukturschwacher Regionen auf dem Land, für die das Angebot vor Ort lange Anfahrten zu den weiterführenden Schulen erspart. Ist das Schulformangebot jedoch etwas breiter und das Gymnasium steht vor der Tür – Hand auf’s Herz – wer schickt den Nachwuchs mit der Bescheinigung für die gymnasiale Eignung in der Tasche dann auf die Sekundarschule? Wie idealistisch müssen Eltern sein, für ein Kind mit gymnasialer Eignung das gemeinsame Lernen mit sozial schwachen und/oder lernschwachen Mitschülern von Klasse 5-10 vorzuziehen? Die Antwort: sehr. Fazit: Die nun auslaufenden Hauptschulen können sich das Schild „Sekundarschule“ über die Pforte hängen und fortan auch Realschüler in ihr Programm mit aufnehmen. Die Gymnasiasten bleiben rar und kochen weiterhin ihre eigene Suppe. Ein feines Schulform-Tuning seitens der Landesregierung. Und trotz der scheinbaren Öffnung des Bildungssystems durch diese neue Schulform lässt sich nicht verschleiern, dass es einen nie da gewesenen Run auf das Gymnasium gibt, der auf alles andere als pädagogische Offenheit und Reformwillen seitens der Elternschaft schließen lässt.

Der Spiegel bilanziert bereits 2009 in dem bissigen und sehr lesenswerten Leitartikel „Die neue Haupt-Schule“: „Für Bildungsbürger ist es eine Sache der Ehre, fast der Existenz, dass ihre Kinder dort bestehen, wo die Weichen für fast alles Erstrebenswerte im Leben gestellt werden, für Geld, Titel und gesellschaftliche Anerkennung. Der Erfolg oder Misserfolg der Kinder in den 3078 deutschen Gymnasien entscheidet manchmal über Glück oder Unglück ganzer Familien. Schließlich ist es das Gymnasium, das nach der Vorstellung vieler Eltern den Kindern ein Gütesiegel fürs Leben verleiht. Oder eben auch nicht. Die Anhänger dieser Schulform verteidigen das Gymnasium als letzten Hort von Ordnung und Leistung, als verlässlichen Pol, an dem der Nachwuchs seinen moralischen Kompass ausrichten soll. Und bei manchen Befürwortern schwingt in der Begeisterung wohl auch ein Hauch von Heinz Rühmanns „Feuerzangenbowle“ mit. Das Gymnasium als heile Welt mit gestrengen, aber gerechten Lehrern, klecksenden Füllern und kratzender Kreide. Für seine Gegner dagegen ist das Gymnasium ein Vehikel sozialer Ungleichheit, das es lieber heute als morgen abzuschaffen gilt. Sie träumen davon, dass Bildung so umverteilt werden kann wie Geld in der klassischen Sozialpolitik. Auch die sozial Schwachen sollen davon etwas abbekommen, eine Art Humboldt IV für Hartz-IV-Empfänger.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-67682740.html

Sehr ernüchternd postuliert auch der Autor Christian Füller in seinem Artikel „Mein Kind first“: Wie Eltern gute Schulen verhindern“: „Eltern sind die nervöseste Spezies, die mit Schule zu tun hat. Und die ungeduldigste Spezies. Sie wollen alles für ihr Kind – aber sie wissen oft kaum, wie Schule heute funktioniert. Ihre Devise lautet: Mein Kind first. Ihre Reformbereitschaft ist so ausgeprägt wie die Konrad Adenauers: „Keine Experimente.“ Eine brisante Melange für die Pisa-geschockte Gesellschaft. Denn die Schule braucht Reformen, sie braucht sie wie die Wüste das Wasser. Aber auf Neues reagieren Eltern allergisch. Und militant. Das Land schimpft über das Bildungssystem, über faule Lehrer, unfähige Politiker und lustlose Schüler; die Eltern schimpfen fleißig mit. Dabei bremst kaum jemand so wie sie.“ http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/mein-kind-first-wie-eltern-gute-schulen-verhindern-a-627628.html

Der „Schulfrieden“ der NRW-Landesregierung sorgt vor allem für eins: Für die Sicherung von Wählerstimmen. Denn wo das Gymnasium in seinem Monopol bestehen bleibt und gleichzeitig die Schullandschaft durch schicke neue Etiketten aufgebürstet wird kann der Wähler sich sicher sein: Hier gibt es nur Gewinner.