In einem aktuellen Artikel der Süddeutschen Zeitung berichtet ein Redakteur und Vater einer Vierjährigen von einem Selbstversuch: Einen Tag lang hat er per Tonband aufgezeichnet, wie er mit seinem Kind kommuniziert. Über seine erschreckende Erkenntnis, wie oft er dem Kind mit einem genervten „Nein“ Verbote aussprach, lamentiert er in seinem Artikel und schilt sich für diese „Härte“.

Ich kann zwar verstehen, dass das väterlich schlechte Gewissen gegenüber einem scheinbar wehrlosen kleinen Wesen aus eigenem Fleisch und Blut gelegentlich sentimental macht, doch halte ich diese übertriebene Empfindsamkeit für Fehl am Platz. (Naja, Artikel von empfindsamen jungen Vätern bekommen wahrscheinlich einfach mehr Klicks im Internet…)
Das Aufzeigen von Grenzen im zwischenmenschlichen Umgang, permanent, mantra-artig und zermürbend, ist leider aber dennoch unausweichlich zentraler Bestandteil von Erziehung.

Wenn Eltern aus Angst, die Liebe des Kindes zu verwirken, zu laissez-faire, zu verhätschelnd oder zu überbeschützend agieren, tun sie weder sich, noch dem Kind einen Gefallen. Das wissen viele Eltern und können es auch scharfsinnig bei Kindern und Eltern ihres Umfeldes diagnostizieren. Man fragt sich also, warum so vielen das Phänomen bewusst ist, sich die Gesellschaft jedoch immer mehr in die entgegengesetzte Richtung bewegt.


Hier zeigt sich die all zu menschliche Crux, dass man ja fehlbar ist und gelegentlich zu Betriebsblindheit neigt, so auch, was das eigene Elternverhalten angeht.

Da merkt man im Zweifelsfall kaum oder gar nicht, dass ein auf lange Sicht eher ungünstiger Erziehungsstil zu Hause Einzug gehalten hat. Oder man entlastet sich wenn das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist mit Vorschüben und Schön-reden:

„Das hat der Ben genetisch eben so mitbekommen.“
„Die Mia hat einfach einen ganz staken, individuellen Charakter und ihren eigenen Kopf. Ist doch toll.“

Umso größer die Überraschung und die Empörung mancher Eltern, wenn pädagogisches Personal in Kindergarten oder Schule vorsichtige Rückmeldungen in diese Richtung streuen…

Im Rahmen einer Hospitation in einer psychiatrischen Tagesklinik für Schulkinder hörte ich vor ein paar Tagen aus dem Munde eines Kinderpsychologen folgende Aussage, die mir nachhaltig hängen blieb:

Wer seinen Kindern nicht kurz und schmerzlos Grenzen setzt, sondern alles ausdiskutiert, in Watte packt und in langen, scheinbar gleichberechtigten Gesprächen „auf Augenhöhe“ auf Einsicht plädiert, erreicht Folgendes:

Im Alter von 10 Jahren hat das Kind:
a) einen erstaunlich großen Diskussionswortschatz
b) diskutiert es endlos
c) wird den Eltern seitens des Kindes keinerlei Respekt und erzieherische Autorität mehr zugemessen.

Wir alle haben sie vor Augen, die mahnenden Beispiele erschreckend entgleister Kinder, die ihre Eltern und Umwelt terrorisieren, von denen man sich fragt „Wie konnten die nur so werden?“. Nachhaltig gruselig und anschaulich schlägt sich dies im Brandbrief einer Grundschullehrerin aus Hamburg nieder.

Und wir kennen die Gegenbeispiele, Kinder, die genügsam, verantwortungsvoll und ausgeglichen durch den Alltag gehen. Ihre Frustrationstoleranz ist ungleich höher als die der Alles-Dürfer und Alles-Bekommer und wurde von Beginn an trainiert: durch das liebevolle aber bestimmte Setzen von Grenzen.

„Mit der Mareike hab ihr es aber auch leicht. Die ist ja so ein liebes Mädchen, da habt ihr ja einen entspannten Job.“

Doch diese „wohlerzogenen“ Kinder kommen erfahrungsgemäß nicht von ungefähr. Ihr sozial verträgliches Wesen ist die Frucht jahrelanger, wirksamer Erziehungsarbeit. Und diese ist leider nicht immer Angenehm. Erziehen ist ein Knochenjob. Es erfordert Dran-bleiben, konsequent sein und Konsequenzen ziehen (Artikel dazu: Warum Konsequenz so wichtig ist) und auch mal unangenehm werden – natürlich alles vor dem Hintergrund von positiver Bestärkung und viel Liebe. Auf dem Boden dieser liebevollen Grundstimmung, auf die sich das Kind immer verlassen können muss, kann Erziehung im Sinne von „Grenzen-setzen“ stattfinden.

Über eine konstruktive Art, wie dies erfolgen kann, berichte ich hier: BE-ziehung statt ER-ziehung! Eine praxistaugliche Philosophie für Supermaktschlange und Quengelregal?

Wo Eltern sich mit ihren Kindern über-identifizieren (Winterhoff nennt das „psychische Verschmelzung“ und bezieht sich damit auf die freudsche „Projektion“) und ihnen deswegen jede Enttäuschung ersparen und jeden Wunsch gewähren wollen, dort findet eine Art von „Kindesmisshandlung“ statt, deren Konsequenzen das Umfeld des Kindes und später des Erwachsenen ein Leben lang ausbaden müssen. Das Kind selbst übrigens auch. In Form eines schwachen Selbstwertgefühls (paradox, oder?), Unselbständigkeit, Überforderung, Egozentrik…


Wie Sie Ihrem Kind Selbstvertrauen schenken können: Grenzen setzen 

Stellen Sie ein paar verständliche Regeln auf. Wenn Sie Ihrem Schatz sagen, dass es seinen Snack in der Küche essen soll, lassen Sie ihn nicht am nächsten Tag mit Keksen und Früchten durchs Wohnzimmer wandern. 
Oder wenn Sie ihm beibringen, die schmutzigen Kleider in die Wäschebox zu tun, erlauben Sie nicht, dass es sie am nächsten Tag auf den Boden wirft. Das Wissen, dass einige Regeln unumstößlich sind, wird Ihrem Kind mehr Sicherheit geben. Es erfordert regelmäßige Wiederholungen von Ihnen, aber schon bald wird Ihr Kind Ihre Erwartungen erfüllen. Bleiben Sie klar und konsequent und zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie darauf vertrauen, dass es das Richtige tut. 

Quelle: Zehn Wege, das Selbstvertrauen ihres Kindes zu stärken

Kinder können durchaus mit einem „Nein“ umgehen. Wenn man ihnen nicht liebevoll aber bestimmt sagt wo Schluss ist, wird dies in unsicheren, aufsässigen und/oder wenig sozialverträglichen Kindern enden. Wem das „Nein“ zu harsch oder zu abgedroschen ist, der findet hier Möglichkeiten, es anders auszudrücken: Alternativen zum „Nein“ 

Zugegeben, dieses Beharren auf dem Eltern-Kind-Machtgefälle klingt irgendwie altmodisch, autoritär und beschwört Bilder von prügelnden Vätern zu Kaisers Zeiten. Doch hier ist kein autoritärer oder gar schädigender Erziehungsstil gemeint. Wer Kindern keine gleichberechtigte Position auf Augenhöhe beimisst, sondern seine Position als erwachsener Erzieher mit Erfahrungs- und Verantwortungsvorsprung wahrnimmt, der entlastet Kinder von einer massiven Überforderung. Denn Kinder sind schlichtweg entwicklungspsychologisch noch nicht fähig, Konsequenzen ihres Tuns zu überblicken und dafür grade zu stehen. Dies muss ihnen abgenommen werden. Von jemandem, der schlichtweg auch einfach mal verbietet. Im Sinne des Kindes.

Im Grunde drücken sich Eltern, die ihrem Kind viel durchgehen lassen, es wenig Einschränkungen spüren lassen und ihm möglichst viele Enttäuschungen ersparen wollen vor ihrer pädagogischen Verantwortung. Man geht den Weg des geringeren Widerstandes und verteidigt dies nach außen als besondere Liebe und Fürsorge.


Doch die vorlauten, diskutierfreudigen, altklugen und aufsässigen Kinder aus dem Beispiel das eingangs zitierten Jungendpsychologen, die die Autorität ihrer Eltern nicht mehr anerkennen, sind nicht wirklich frei und autark. Sie sind gestresst und überfordert, weil sie aus falscher „Kinderfreundlichkeit“ etwas leisten müssen, zu dem sie eigentlich noch nicht in der Lage sind.